Respekt vor der Natur

Nachhaltig und faszinierend: Architektur ist in Norwegen auch ein wirksames Mittel im Ringen um internationale „Sichtbarkeit“.

Moderne und traditionelle Höhepunkte skandinavischer Architektur waren die Ziele einer lang geplanten Fachexkursion nach Norwegen. Nach einer zweijährigen Verschiebung durch die anhaltende Corona-Pandemie starteten am 3. Juni 2022 insgesamt 34 Teilnehmer*innen der Studiengänge Architektur und Innenarchitektur der Hochschule Kaiserslautern eine zehntägige Architekturreise. Hauptreiseziele waren Oslo und Bergen sowie die norwegischen Landschaftsrouten. Gefördert wurde diese Reise sowohl vom Freundeskreis der Hochschule Kaiserslautern als auch vom PROMOS-Programm des DAAD.

Der erste Morgen begann in der Hauptstadt Oslo mit Sonnenschein und einem frühen Stadtspaziergang durch das alte Arbeiterviertel Vulkan, das sich gerade zu einem jungen, neuen, spannenden Stadtteil entwickelt. Zwischen den vielen alten Industriegebäuden, vorbei an der School of Architecture, den Mathallen, dem Dansens Hus und weiteren architektonischen Projekten führte unsere Tour über die Akrobaten Brücke zu Oslos neuer architektonischen Skyline, dem Barcode.

Oslo ist die am schnellsten wachsende Hauptstadt Europas. Innerhalb der letzten Jahre wurden direkt am Fjord einige renommierte Kulturbauten fertiggestellt. Nach einer sehr beeindruckenden Führung im Opernhaus von Snøhetta und dem Besuch des erst kürzlich eröffneten Munch-Museums erhielten wir am Nachmittag auf einer vierstündigen Fahrradtour Einblicke in die 1000-jährige Stadtgeschichte, die Entstehung neuer Stadtviertel sowie die Stadterneuerung durch Transformation alter Industriegebiete. Vorbei an dem monumentalen Rathaus mit seiner farbenprächtigen Innenraumgestaltung, dem Architekturmuseum von Sverre Fehn und dem Astrup Fearnley Museum für moderne Kunst von Renzo Piano führte unsere Radtour zur Halbinsel Bygdøy, einem Naherholungsgebiet westlich von Oslo.

Der Schwerpunkt der skandinavischen Architektur liegt auf nachhaltiger Holzarchitektur mit neuen Technologien und Konstruktionen. So konnten wir auf unserer zweitägigen Rundreise um Oslo im derzeit höchsten Holzhochhaus der Welt Mjøstårnet am Ufer des Sees Mjøsa in Brumunddal übernachten. Mit seinen 85,4 Metern bietet es auf 18 Geschossen einen weiten Blick über das Wasser und die umgebende südnorwegische Landschaft. Auf dieser Tour um Oslo beeindruckten uns vor allem das vom dänischen Architekturbüro BIG als Brückenhaus konzipierte Museum „The Twist“, das Hedmark Museum, das berühmteste Werk der Nachkriegsarchitektur des Pritzker-Preisträgers Sverre Fehn sowie die höchste Holzkirche Europas, die Våler Kirche mit ihrer besonderen skupturellen Form.

Mit der Bergenbahn ging es dann weiter von Oslo durch einige der schönsten Landschaften Norwegens nach Myrdal. Die Fahrt auf Nordeuropas höchstgelegener Bahnstrecke bietet atemberaubende Ausblicke über wald- und seenreiche Landschaften und die schneebedeckte Hochebene oberhalb der Baumgrenze. In Myrdal stiegen wir um in die historische Flåmsbahn. Sie ist eine der steilsten Bergbahnen der Welt auf normalem Gleis. Die 20 Kilometer lange Strecke hat eine Höhendifferenz von 866 Metern und führt in das kleine Dorf Flåm am Aurlandsfjord. Diesen wunderschönen Reisetag beendeten wir mit einem Beer Tasting in der Ægir Mikrobrauerei und einem gemeinsamen gemütlichen Grillen im Flåm Hostel.

Am nächsten Morgen besichtigten wir die Aussichtsplattform Stegastein, die 650 Meter über dem Aurlandsfjord einen herrlichen Panoramblick bietet. Steile, bewaldete Bergwände, enge Täler und Wasserfälle, die direkt in den Fjord stürzen, und kleine bunte Holzhäuser am Ufer konnten wir im Anschluss während unserer Fahrt durch den längsten und tiefsten Fjord Norwegens, den Sognefjord, bewundern. Die Expressfähre brachte uns in 5,5 Stunden von Flåm nach Bergen.

Bergen wird auch als „Tor zu den Fjorden“ bezeichnet. Bergen ist die regenreichste Großstadt Europas, aber auch hier hatten wir wieder Glück mit dem Wetter. Auf unserer dreistündigen geführten Radtour bekamen wir in kürzester Zeit einen Eindruck von der Hafenstadt mit den vielen Kopftsteinpflastergassen. Im Viertel Bryggen, der UNESCO-Welterbestätte, stehen bunte Holzhäuser an der alten Landungsbrücke aus einer Zeit, als Bergen das Handelszentrum zwischen Norwegen und dem Rest von Europa war. Am Fischmarkt herrschte reges Treiben, mit der Fløibahn waren wir in sechs Minuten auf 320 Meter Höhe und konnten von dort den Blick auf die Stadt mit den sieben Bergen genießen. Auch in Bergen entstand 2015 bereits ein Holzhochhaus, getauft auf den Namen „Treet“, der Baum. Das vom Architekturbüro Artec entworfene 14-stöckige Gebäude ist 51 Meter hoch, die Wohnungen bestehen aus vorgefertigten Modulen, die in die Tragstruktur aus Leimbindern eingesetzt wurden. 

Der Besuch der Bergen School of Architecture (BAS) war ein besonderes Highlight. Herzlich empfangen wurden wir von der Vizerektorin Dr. Cecilie Andersson, die uns das außergewöhnliche Konzept der BAS vorstellte und einen Austausch unter den Studierenden ermöglichte.

Die BAS wurde 1986 als private Stiftung von dem Architekten Svein Hatløy gegründet und befindet sich seit 1997 in einem ehemaligen Kraftfuttermischwerk im Stadtteil Sandviken direkt am Meer.  Die Atmosphäre in diesem alten Industrieareal ist sicherlich einzigartig. Alle Kurse haben eigene Atelierräume. Schon beim Betreten der großen Eingangshalle spürt man, dass hier der Modellbau und das Experimentieren mit Material und Form im Vordergrund stehen. Das ganze Jahr findet hier studentisches Arbeiten aller Art statt. Der frühere Silokeller mit seinen rauen Betonoberflächen und einer einzigartigen Akustik dient heute als Ort für kulturelle Produktionen und Performancekunst und wird regelmäßig für große Veranstaltungen genutzt.

Sowohl der Lehrplan als auch die Arbeiten der Studierenden weisen auf eine anthropologische und ökologische Architektur hin. Experimentieren und Selbstlernen in Verbindung mit längeren Aufenthalten in der Natur sind die wesentlichen Schwerpunkte der Architekturausbildung. Dieses Open-Form-Konzept wurde von Oskar Hansen an der Warschauer Akademie der Bildenden Künste formuliert und in Norwegen von seinem Studenten, dem Gründungsrektor Svein Hatløy, weiterentwickelt.

Die Norwegischen Landschaftsrouten – es gibt insgesamt 18 in ganzen Land – führen durch spektakuläre Landschaften mit einzigartigen Naturqualitäten sowie an Küsten und Fjorden, Bergen oder Wasserfällen vorbei. Von Bergen aus begaben wir uns zwei Tage mit dem Bus auf die Landschaftsroute Ryfylke, deren Höhepunkt sicherlich das Zinkgrubenmuseum im früheren Bergbaugebiet Allmannajuvet mit den Bauten des Pritzger-Preisträgers Peter Zumthor war. Um die gesamte Anlage und den einstigen Bergbaubetrieb (1881-1899) besser zu verstehen, buchten wir eine geführte Tour entlang des Bergbaupfades zum Mineneingang. Mit Helm und Stirnlampe ging es dann eine Stunde lang durch die engen, dunklen Stollen.

Der Rastplatz Ostastein, der Warteraum in Ropeid für Fahrgäste der Expressschiffe, die spektakuläre Treppenaufgänge zum Wasserfall Svandalsfossen und die Fußgängerbrücke Hosebrua gehören zu den weiteren architektonischen Höhepunkten dieser Architekturroute.                 

Auf dem Rückweg nach Bergen konnten wir noch ein schönes Beispiel aus der Zeit des Funktionalismus besichtigen, das Hauptgebäude des Kraftwerks Røldal-Suldal mit dem Energie-Hotel, 1965 vom norwegischen Architekten Geir Grung gebaut. Den Abschluss unserer architektonischen Reise durch Norwegen bildete der Besuch der Stabkirche Røldal. Diese Kirche aus Holz, auch Mastenkirche genannt, ist ein Meisterwerk nordischer Baukunst.

Von den rund 800 Stabkirchen, die vor allem im 11. und 12. Jahrhundert in Norwegen errichtet wurden, sind noch 28 erhalten, sie wurden 1905 unter Denkmalschutz gestellt.

 

Autoren: Prof. Dipl.-Ing. Brigitte Al Bosta, Ass. Dipl.-Ing. Anja Höfler, LB Nils Luscher

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